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Autofreies Viertel mit 10.000 Einwohnern und 21.500 Fahrradstellplätzen

Utrecht baut das größte „autofreie“ Viertel in der Merwedekanaalzone:
– 10.000 Einwohner
– 21.500 Fahrräder
– Hohe Dichte/Vielfalt
– Energieneutral
– Geteilte Mobilität
– Reichlich Grünflächen
– Gemeinsame Gärten
– Hausmeister in der Nachbarschaft

https://www.nrc.nl/nieuws/2023/01/24/de-autovrije-wijk-van-de-toekomst-komt-in-utrecht-heel-groen-en-heel-druk-a4155202

Das Viertel der Zukunft: Platz für 10.000 Menschen, 21.500 Fahrräder und 0 Autos auf der Straße

Raumplanung In Utrecht entsteht eines der größten innerstädtischen autofreien Quartiere der Niederlande. Wer will dort leben? Und wie werden Sie Ihre Pakete nach Hause bringen?

Mitten in den Niederlanden soll noch in diesem Jahr der erste Pfahl für ein Zukunftsquartier in die Erde gebracht werden. Die neue Wohnsiedlung Merwede, auf einem alten Industriegelände am Merwedekanaal, zehn Minuten mit dem Fahrrad vom Hauptbahnhof Utrecht entfernt. Man kann dort bereits eine große Sandfläche sehen, eine überraschende Leere innerhalb der Umgehungsstraße.

In Merwede werden 6.000 Wohnungen für 10.000 Stadtbewohner entstehen. In den Gebäuden werden 21 500 Fahrradstellplätze zur Verfügung stehen.

Und keine Autos auf der Straße.

Merwede wird eines der größten innerstädtischen, autofreien Stadtviertel der Niederlande sein (34 Fußballfelder). Oder „praktisch autofrei“, wie die Gemeinde es etwas nuanciert.

In Merwede wird es keine Autobahnen, Ampeln oder Parkplätze geben. Für Radfahrer und Fußgänger wird es nur mäandernde Wege geben.

„Ich halte viele Vorträge darüber, es gibt immer Diskussionen, und es gibt immer Leute, die nicht daran glauben“, sagt der Stadtplaner Marco Broekman, einer der Hauptverantwortlichen für den Stadtteil. „Die sagen: Das ist Wunschdenken, Utopie, das wird nicht funktionieren. Ich brauche mein eigenes Auto. Ich muss meinen Sohn jedes Wochenende zum Fußball bringen. Ja, als ob man das nicht auch mit einem gemeinsamen Auto machen könnte.

Mehrere Gemeinden haben bereits autofreie Stadtteile, wie Delft, Leeuwarden und Maastricht. In Amsterdam wird beispielsweise die autofreie Sluisbuurt gebaut, in Den Haag die Binckhorst und in Utrecht das autofreie Beurskwartier.

Aber Merwede in Utrecht ist aufgrund seiner Größe und seines Aufbaus ein Testgelände. Wie am Dienstag bekannt gegeben wurde, gründet die Gemeinde in diesem Monat zusammen mit den beteiligten Marktteilnehmern eine „Mobilitätsgesellschaft“ für Merwede. Zu ihren Aufgaben gehört es, zehn Jahre lang vier Tiefgaragen am Rande des Stadtteils zu betreiben. Die Anwohner können ihre Autos hier parken, aber nicht alle: Jeder vierte Haushalt kann einen privaten Parkplatz für 200 Euro im Monat mieten.

Alles auf Rädern

Das Mobilitätsunternehmen wird auch „Mobilitätsläden“ betreiben. Über eine App können Sie hier alles mieten, was auf Rädern fährt: von normalen Fahrrädern bis hin zu E-Bikes, E-Highspeed-Fahrrädern und leichten Elektro-Trolleys für den Transport. Außerdem gibt es 250 E-Autos und E-Lieferwagen zu mieten. Nur kommen diese nicht in die Nachbarschaft, denn ob elektrisch oder nicht: es sind immer noch Autos.

Diese E-Autos sollen schließlich auch als Batterien fungieren und zu einer nachhaltigen Energieversorgung des Stadtteils beitragen. Für die Beheizung und Kühlung von Merwede ist ein großes unterirdisches Wärmespeichersystem vorgesehen. Die Hälfte der Dächer wird mit Sonnenkollektoren ausgestattet, die andere Hälfte soll begrünt werden.

Im Vorfeld weiß niemand mit Sicherheit, ob Merwede ein Erfolg wird. „Wir wissen viel, aber auch viel darüber, wie es genau funktionieren wird“, räumt Marien Kleinjan vom Gebiets- und Immobilienentwickler AM ein.

Es gibt viele Fragen. Zum Beispiel: Wer wird bald ein autofreies Stadtviertel einrichten wollen – und wer kann sich einen privaten Parkplatz leisten? Wird der öffentliche Raum nicht zu einem Chaos mit schwingenden Gemeinschaftsfahrrädern? Wie bestücken Sie Ihre Nachbarschaftsläden? Und was ist, wenn die Feuerwehr ausrücken muss?

Sehr grün, sehr beschäftigt

Ein maßstabsgetreues Modell von Merwede ist bereits im hippen Gründerzentrum Kanaal30 ausgestellt, das inzwischen über einen vollen Parkplatz verfügt. Das erste, was Sie bemerken werden, ist, dass der ganze Platz, der durch den Wegfall der Autos frei wird, bereits genutzt wurde. Das Viertel der Zukunft wird sehr grün, aber auch sehr belebt sein. Es handelt sich um einen langen Streifen mit Wohngebäuden aller Formen und Größen.

Merwede (24 Hektar) wird bald die höchste Bevölkerungsdichte in Utrecht haben, bestätigt der Leiter des städtischen Mobilitätsprojekts Finn van Leeuwen. Umgerechnet: etwa vierzigtausend Menschen pro Quadratkilometer, mehr als das Zehnfache des derzeitigen Durchschnitts in Utrecht.

Die hohen Grundstückspreise sind nicht der Grund für die hohe Anzahl von Häusern, sondern der Wunsch der Politiker und der Verwaltung, sagt die Gemeinde. Es werden viele Häuser benötigt, denn Utrecht ist eine der am schnellsten wachsenden Städte in den Niederlanden. Es wird erwartet, dass die Bevölkerung bis 2035 um 26 Prozent auf 454.000 Menschen anwächst.

Van Leeuwen: „In Merwede wird es ziemlich eng werden. Es sind wirklich viele Menschen auf einem kleinen Stück Stadt“.

Diese Dichte war auch eines der Anliegen der Kommunalpolitik. Der Plan schaffte es 2021 mit drei Vierteln der Stimmen in den Stadtrat: die Koalition aus GroenLinks, D66 und ChristenUnie, sowie in letzter Minute die VVD und die lokale Partei Student & Starter. Andere Oppositionsparteien waren der Meinung, der Bezirk sei zu voll. Cees Bos von der Ein-Mann-Partei Stadsbelang Utrecht sprach von „Kalkutta am Merwede, dem Anus der Niederlande“.

Auch im benachbarten Rivierenwijk gab es Proteste, sagt Stadtrat Lot van Hooijdonk (Mobilität, GroenLinks). Dort soll das gebührenpflichtige Parken beschleunigt werden, auch um eine Abwanderung aus Merwede zu verhindern. Außerdem wird es vorerst zwei Fahrrad- und Fußgängerbrücken über den Kanal zum Rivierenwijk geben, statt fünf in dem größeren Gebiet. Van Hooijdonk: „Die Leute haben immer noch das Gefühl: Ich lebe hier gemütlich und bald werden all diese Leute durch meine Straße kommen.“

Eine der Lösungen, um ein so belebtes Viertel wie Merwede lebenswert zu machen, ist eine abwechslungsreiche Architektur, sagt Broekman. Keine starren Hochhäuser, sondern neunzehn Blöcke mit unterschiedlichen Stilen und Materialien und gestaffelten Stockwerken. „Zu hohen, geraden Wänden kann man als Mensch kaum eine Beziehung aufbauen“, sagt er.

Eine andere Lösung ist viel, abwechslungsreiches und hügeliges Grün. Es wird einen Park entlang des Kanals geben, einen „grünen Wanderweg“ durch das Viertel, und jeder Wohnblock wird einen begrünten öffentlichen Innenhof haben. Bei einem Block soll daraus sogar ein erhöhter „Utrechter Grat“ werden, sagt Broekman.

Diese Innenhöfe sind eines der spannenden Dinge, sagt Maarten Stam vom Bauträger AM: „Man teilt seinen Garten nicht nur mit den Nachbarn, sondern im Grunde mit der ganzen Stadt.“ Tagsüber kann er ein Spielplatz für Kinder sein, ein Ort zum Sonnenbaden oder Lesen, aber nachts schließt sich der Hof. Um zwei Uhr morgens wollen Sie keine „dampfende Musik“ in Ihrem Hofgarten hören, sagt Stam.

Auch die Natur in der Stadt ist willkommen. Neben sechstausend Häusern soll es auch sechstausend Nistplätze für die „Big Five of Merwede“, wie sie genannt werden, geben. Dazu gehören der Haussperling, der Mauersegler, der Igel und die Fledermaus sowie Amphibien und Insekten: Frösche, Libellen, Schmetterlinge und Bienen.

Kein Wohngebiet, sondern ein Stadtviertel

Wie sollte ein autofreier Stadtteil wie Merwede funktionieren? Die Idee ist, dass alles – zumindest vieles – zu Fuß oder mit dem Fahrrad erreichbar sein sollte und dass die öffentlichen Verkehrsmittel gut angebunden sein sollten.

„Es wird kein Wohngebiet sein, sondern ein Stadtviertel“, so Broekman. Es gibt also alle möglichen städtischen Einrichtungen, wie zwei Supermärkte und zwei große Plätze, Gastronomie und einen Baumarkt, Kinderbetreuung, zwei Grundschulen und eine weiterführende Schule, eine Sporthalle, ein Gesundheitszentrum mit Apotheke.

Die stark befahrene Europalaan auf der Westseite wird auf eine zweispurige Autobahn reduziert. Hier wird es auch eine neue Busspur geben, und in ferner Zukunft vielleicht eine schnelle Straßenbahn oder U-Bahn.

Vor allem in einem autofreien Viertel sollte das Abstellen von Fahrrädern zugänglich und angenehm sein, sagt Broekman. Keine kalten Keller mit Neonlicht, sondern überdachte „Fahrradräume“ im Erdgeschoss mit Farbe, Glas und viel Tageslicht.

Eine „Gebietsorganisation“ mit einem Nachbarschaftsbetreuer wird Merwede betreuen. Zum Beispiel, ob Besucher ihre Fahrräder auf den Besucherparkplätzen abstellen. „Ich kann mir vorstellen, dass man den Leuten das eine Zeit lang beibringen muss“, sagt AM’s Stam. „Es ist schön, wenn der öffentliche Raum nicht voller Fahrräder ist.“

An einigen Stellen am Stadtrand können die Autos in die Tiefgaragen einfahren: die „entry hubs“. Hier werden auch zwei „Hubs“ mit den Mobilitätsshops sowie „Paketwände“ für die Abholung von Postpaketen angesiedelt. Etwas Großes oder Schweres wie eine Waschmaschine kann jedoch per E-Cart geliefert werden.

Die Supermärkte befinden sich ebenfalls am Rande des Viertels, wo Lastwagen be- und entladen werden können. Die Versorgung z. B. der geplanten Markthalle mit einem weiter oben im Viertel gelegenen Hotel wird schwieriger. Das ist es, was die Anwohner dort als angenehmer empfinden, meint Projektleiter Van Leeuwen. Schmuggel mit einem Lieferwagen, der ein- oder zweimal am Tag vorbeikommt? „Oder wollen Sie 34 Cargobikes pro Tag?“

Die Bewohner können ihren Hausmüll in den Presscontainern ihres Wohnblocks entsorgen. Dieser Container gibt ein Signal, wenn er voll ist, und dann kommt ein kleiner Elektroschrott-LKW, um ihn abzuholen. Van Leeuwen: „Die Sammelkosten sind etwa dreimal so hoch wie für einen durchschnittlichen Haushalt in Utrecht. Das ist für den Stadtrat ziemlich schwierig zu verkaufen. Sie müssen sagen: „Liebe Bürgerinnen und Bürger, Ihre Müllgebühren werden für dieses neue Viertel erhöht.“ Solche Kosten sind Teil der Erneuerung, sagt Van Leeuwen, und je mehr Stadtteile das Abfallsystem übernehmen, desto mehr sinken die Kosten.

Es wird weiterhin Situationen geben, in denen ein Auto unverzichtbar bleibt. Für „1 Prozent“ des „normalen Verkehrs“ wird die Gemeinde daher eine Ausnahmegenehmigung erteilen. Wenn Sie zum Beispiel umziehen. Van Leeuwen: „Es ist ja nicht so, dass Sie gezwungen wären, mit einem Lastenfahrrad umzuziehen.“ In Merwede werden Menschen geboren und sterben. Broekman: „Es wird wahrscheinlich ein Pflegeheim geben, und deshalb regelmäßig einen Leichenwagen.“

Und das Viertel muss auch für Rettungsdienste zugänglich sein, obwohl die Rad- und Fußwege bewusst nicht auf Feuerwehrfahrzeuge ausgerichtet sind. Van Leeuwen: „Es ist ganz einfach: Wenn die Feuerwehr reingehen muss und es nicht passt, dann passt es trotzdem. Dann fahren sie einfach die Blumenbeete ab. Und das wissen sie auch, das steht nicht zur Diskussion“.

Mischung der Einwohner

Es bleibt abzuwarten, wie die Einwohner von Merwede zusammengesetzt sein werden. Die Häuser werden zu 30 Prozent zur Sozialmiete, zu 25 Prozent im mittleren Segment und zu 45 Prozent im teureren Segment zur freien Miete oder zum Verkauf angeboten.

Wenn man ein geringes Einkommen hat und sein eigenes Auto für die Arbeit oder die Pflege braucht, sind 200 Euro Monatsmiete für einen privaten Parkplatz ein „ernsthafter Preis“, weiß Projektleiter Van Leeuwen. Einige Kilometer von Merwede entfernt können Sie jedoch einen Parkplatz zu einem günstigeren Preis mieten.

Für Behinderte kann ein autofreies Viertel auch ein Hindernis sein. Auf Drängen der Politiker erhalten sie deshalb einen Rabatt auf einen Parkplatz.

„Es wird spannend sein, ob stadtorientierte Familien hier ihren Platz finden werden“, meint Kleinjan von AM. Denken Sie an viel beschäftigte Väter und Mütter, die sich darum streiten, wer das Auto benutzen darf.

Werden ältere Menschen ihre Einkäufe zu Fuß oder mit dem Fahrrad erledigen können? Ein autofreies Viertel trägt dazu bei, lebendig zu bleiben, und es gibt zahlreiche Treffpunkte für ältere Menschen, so Broekman. Wenn Merwede sich für ältere Menschen nicht als attraktiv erwiesen hat, ist das Projekt „eigentlich nicht gelungen“, so Stam von AM. „In einem großen Viertel mit 6.000 Wohnungen möchte man ein Spiegelbild von Utrecht haben.

Merwede wird sich noch bewähren müssen, bevor das Projekt abgeschlossen ist. Wenn sich ein paar Jahre nach dem Bau der ersten 4.250 Wohnungen herausstellt, dass der Verkehr im Viertel abnimmt, wird grünes Licht für die restlichen 1.750 Wohnungen gegeben. Das Mobilitätsunternehmen muss auch nachweisen, dass es rentabel ist. Es wird erwartet, dass die Marktteilnehmer schließlich aussteigen und die Gemeinde zum Hauptaktionär wird.

Ein solches Viertel der Zukunft erfordert mehr Engagement von allen Beteiligten, sagt Stadtrat Eelco Eerenberg (Raumplanung, D66). „Wir haben gesagt: Das ist einmalig, das muss sofort gut gehen. Vor allem in der Zeichnungsphase muss man als Kommune eine stärkere Rolle spielen, sonst geht es nicht.“

Auch die Marktteilnehmer, von Immobilieninvestoren bis hin zu Wohnungsbaugesellschaften, werden eine andere Rolle als üblich spielen. Van Leeuwen von der Gemeinde: „Die Entwickler sind es gewohnt: Ich baue, liefere einen Block, verkaufe ihn und bin weg.“ Kleinjan von AM: „Hier werden wir zehn Jahre lang dafür sorgen, dass das Viertel weiterhin gut funktioniert.“

Letztendlich ist ein autofreies Viertel gesünder, klimafreundlich und in einer wachsenden Stadt notwendig, so die Stadtverwaltung. „Ein Auto steht 80, 90 Prozent der Zeit still und nimmt Platz weg“, sagt Stadtplaner Broekman. „Wir können nicht auf dieser Fläche leben, Grünflächen und Spielplätze anlegen. Das ist lächerlich, nicht wahr?“